Wie Bierdeckel vorm Ruin bewahren

Biedenkopf. Guten Rat findet man bisweilen auch unter einem Glas Kölsch. „Kenne mer nit, bruche mer nit, fott domet“, stand auf Ortwin Schäfers Bierdeckel. Die rheinische Redensart hat sich eingebrannt. Sie könne davor bewahren, sich hoffnungslos zu verschulden, sagt der Leiter des „Treffs“ in Biedenkopf, unter dessen Dach die Schuldnerberatungsstelle zu finden ist.


312 Menschen aus dem Hinterland suchten im vergangenen Jahr Hilfe im „Treff“, weil ihnen die Schulden über den Kopf gewachsen sind. Creditreform zufolge sind diese 312 aber nur die Spitze des Eisbergs. 4150 überschuldete Menschen zählte das Inkassounternehmen 2014 im Hinterland. Die meisten davon leben in Biedenkopf. In der Stadt steckt jeder zehnte so tief in den Miesen, dass er ohne Hilfe nicht wieder herauskommt. Und das, obwohl die Arbeitslosenquote sehr niedrig ist. 3,2 Prozent vermeldete die Agentur für Arbeit im Dezember.


Entdeckte die Wahrheit nicht im Wein, sondern auf einem
Bierdeckel: Ortwin Schäfer, Leiter des „Treffs“ in Biedenkopf.
(Foto: Heitz)

„Aber in unserer Region gibt es viele Menschen in Leiharbeit“, sagt Tanja Schäfer, Schuldnerberaterin im „Treff“. Die Einkommen seien sehr niedrig. Da komme man schnell in eine finanzielle Schieflage, sagt sie. „Und unsere Klienten sind oft Geringverdiener, Menschen, die auf Transferleistungen angewiesen sind, selten Gutbürgerliche, Beamte oder Angestellte in leitenden Positionen“, sagt Ortwin Schäfer.

Tanja Schäfer: Männer verschulden sich eher wegen Autos und Technik

Überschuldung allein auf niedrige Einkommen zurückzuführen, greift nach Ansicht der beiden jedoch zu kurz. Auch kritische Lebensereignisse wie eine Scheidung, langwierige Erkrankungen oder der Tod des Partners können Menschen in Schulden stürzen, sagt Tanja Schäfer. Oder schlicht Planlosigkeit in finanziellen Angelegenheiten.

„Bei den meisten meiner Klienten kommen mehrere Faktoren zusammen“, sagt die Schuldnerberaterin. Die Summen, mit denen ihre Klienten in der Kreide stehen, lägen in der Regel zwischen 10 000 und 300 000 Euro.

Während sich Männer ihrer Erfahrung nach eher wegen Autos und Technik in Schulden verstrickten, sei es bei Frauen eher der Kauf auf Pump bei Onlineversandhäusern oder auch die Trennung vom Partner, die zu ernsthaften finanziellen Schwierigkeiten führe. Dass die Raten fürs Haus plötzlich zur drückenden Last werden, komme bei Männern und Frauen gleichermaßen vor.

Unterschiede zwischen Mann und Frau hat Tanja Schäfer auch beim Umgang mit Überschuldung beobachtet. Während viele männliche Klienten direkt die Privatinsolvenz anstrebten, bei der nach einer sechs Jahre währenden Wohlverhaltensphase ein Schuldenerlass winkt, versuchten Frauen tendenziell eher, jede Gläubigerforderung zu bedienen, auch wenn das für sie anstrengender, langwieriger oder unwirtschaftlicher ist als der Schritt in die Insolvenz.

Nach Einschätzung der beiden Experten ist Überschuldung in vielen Fällen auch ein Stück weit hausgemacht. Lebenskrisen träfen schließlich viele Menschen. Doch nicht für jeden werde die Lebens- auch zur Schuldenkrise. „Unsere Klienten haben keine Ressourcen, die vor Überschuldung bewahren“, sagt Ortwin Schäfer. Das könnten materielle Ressourcen sein wie Mieteinnahmen oder vermögende Verwandte, die einen im Notfall über Wasser halten. Das könne aber auch Zurückhaltung beim Konsum sein.

Ortwin Schäfer erzählt von dem Spruch auf dem Bierdeckel. „Vieles, was Werbung verkaufen will, brauche ich ja eigentlich gar nicht.“ Den Bierdeckelspruch zu verinnerlichen helfe, sich Verlockungen der Konsumwelt zu widersetzen.


Findet Peter Zwegat toll, weil er
Schulden gesellschaftsfähig gemacht
habe: Schuldnerberaterin Tanja Schäfer.
(Foto: Heitz)

In die gleiche Kerbe schlägt Tanja Schäfer mit ihrem Vorschlag, den Umgang mit Geld in der Schule zu unterrichten. „Der Umgang mit Geld wird in der Familie gelernt“, sagt sie. Das bedeute: Wenn es die Eltern nicht können, lernen es die Kinder nicht. Ihre Arbeit in der Schuldnerberatung habe ihr das vor Augen geführt. „Es gibt Namen, die tauchen immer wieder auf.“

Eine grundsätzliche Herausforderung besteht Tanja Schäfer zufolge darin, dass einem das Geldausgeben heute sehr leicht gemacht werde, beispielsweise durch das Bezahlen mit EC-Karte oder den Kauf auf Raten. Wenn sie ihren Klienten dagegen vorschlage, ein Haushaltsbuch zu führen, sorge das regelmäßig für einen Aufschrei. „Dann sagen sie mir: ,Das ist doch so aufwändig!'“

– Kontakt: Wer finanziell im Abseits steht, bekommt im „Treff“ (Hainstraße 39) in Biedenkopf kostenlos Hilfe. Die Schuldnerberatung ist telefonisch erreichbar unter Telefon (06461) 95240 (montags, mittwochs, donnerstags von 10 bis 12 Uhr). Eine offene Sprechstunde für neue Anfragen bietet Schuldnerberaterin Tanja Schäfer an jedem ersten Donnerstag im Monat von 16 bis 18 Uhr an. Für Termine muss eine Wartezeit von zwei bis drei Monaten einkalkuliert werden.

Stichwort: Überschuldung

Überschuldete Menschen sind auch in absehbarer Zeit nicht in der Lage, fälligen Zahlungsverpflichtungen – wie Miete oder Kreditraten – nachzukommen. Sie können ihre Verbindlichkeiten selbst dann nicht bedienen, wenn sie ihren Lebensstandard einschränken. Um den Lebensunterhalt zu bestreiten, stehen ihnen weder Vermögen noch Kreditmöglichkeiten zur Verfügung.

Im deutschlandweiten Ranking aller Kreise und kreisfreien Städte nach Schuldnerquote liegt der Kreis Marburg-Biedenkopf im Mittelfeld. Zum Vergleich: In Wiesbaden ist jeder Sechste überschuldet, in unserem Kreis etwa jeder Zwölfte. An der Schuldnerquote des Kreises hat sich in den vergangenen Jahren wenig geändert: Von 2008 bis 2014 stieg sie um 0,2 Prozentpunkte.

von Friederike Heitz (Hinterländer Anzeiger, 20.02.2015)

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