Podiumsdiskussionen zur Landtagswahl

Die Direktkandidaten der im Hessischen Landtag vertretenen Parteien diskutierten auf Einladung der Diakonie im Landkreis

„Armut bedeutet mehr, als wenig Geld zu haben. Sie äußert sich in einem Mangel an Teilhabe – Teilhabe an einer Gesellschaft, die sich rasant verändert und entwickelt. Nicht nur aufgrund des demografischen Wandels, sondern auch aufgrund einer der größten Revolutionen, die wir derzeit erleben: der Digitalisierung“: Vor diesem Hintergrund lud der Arbeitskreis der Diakonischen Dienste – also die Diakonie im Landkreis – Ende September die Direktkandidaten der im Hessischen Landtag vertretenen Parteien zu Podiumsdiskussionen nach Marburg und Biedenkopf ein.

„Wir wollen mit den Landespolitikerinnen und -politikern diskutieren, was getan werden muss, damit die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinander geht, damit die Abgehängten in unserer Gesellschaft wieder angehängt werden können“, erklärten Ulrich Kling-Böhm (Diakonisches Werk Marburg-Biedenkopf), Michael Kessler (Bürgerinitiative Sozialpsychiatrie) und Horst Viehl (Vorstand Lebenshilfewerk Marburg-Biedenkopf) zum Hintergrund der Diskussionsrunden.

„Es ist unerhört, dass viel zu viele Menschen benachteiligt werden und der Inhalt des Geldbeutels zu oft über Gesundheit, Bildung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben entscheidet“, findet Kling-Böhm deutliche Worte. „Als Diakonie ist es uns ein Anliegen, Ungehörten Gehör zu verschaffen und sowohl für die Menschen, die unseren Rat, Hilfe oder Beistand suchen, als auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter öffentlich Position zu beziehen.“

Für Kessler ist bei allen Diskussionen um Hilfe wichtig, dass nicht nur der Kostenfaktor berücksichtigt wird, sondern auch die Wirtschaftsleistung von Sozialer Arbeit und das Schaffen von Arbeitsplätzen. „Uns als Teil der Sozialwirtschaft kommt ein erhebliches volkswirtschaftliches Gewicht zu“, sagt der Geschäftsführer der BI Sozialpsychiatrie und verweist auf überregionale Zahlen: Von 2009 bis 2014 gab es in Hessen ein Wachstum der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung im Bereich der Sozialwirtschaft von 15,4 Prozent – dreimal so hoch wie in der Gesamtwirtschaft. In Rheinland Pfalz hat eine Studie ergeben, dass von jedem Euro, den der Staat in die Sozialwirtschaft investiert, 72 Cent durch Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträge zurückfließen.

Horst Viehl hat den sozialen Aspekt bei der Digitalisierung im Fokus: „Dass die technische Entwicklung hilft, die Arbeit zu erleichtern und Freiräume schafft – Freiräume, die zum Wohle der Betreuten und Betreuenden genutzt werden.“ Denn bislang werde in Fachkreisen und Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen gerade erst damit begonnen, sich damit zu beschäftigen, welche Chancen diese Entwicklung für Menschen mit Behinderungen biete – etwa in der Medizin, der Pflege, der Mobilität, bei der selbstbestimmten Lebensführung, aber auch bei der Teilhabe am Arbeitsleben.
„Armut und Ausgrenzung stellen multidimensionale und multikausale Phänomene dar, die sich nicht nur in der Messung eines Parameters – nämlich eines vergleichsweise geringen Einkommens – erschöpfen“, leitete Uwe Seibel (Referent für Gemeinwesenarbeit / Allgemeine Sozialarbeit der Diakonie Hessen) die Diskussion am 20. September im Saal des Cineplex-Kinos in Marburg ein: mit den Direktkandidaten – oder: Direktkandidat/innen? – der im Hessischen Landtag vertretenen Parteien für den Wahlkreis Marburg-Biedenkopf II – Marburg und Ostkreis, Dirk Bamberger (CDU), Handan Özgüven (SPD), Angela Dorn (Bündnis 90 / Die Grünen), Jan Schalauske (Die Linke) und Lisa Freitag (FDP).

Zum Thema Armut gab es reichlich Diskussionsstoff

„Arbeit schützt vor Armut nicht“, fasste Seibel in seinem Vortrag das Phänomen der sinkenden Arbeitslosenquote bei einer gleichzeitig immer größer werdenden Lücke zwischen Arm und Reich zusammen. Und er bestätigte: „Es ist genug für alle da!“ In seinem Eingangsvortrag informierte er über die Entwicklungen in Hessen. Die Ursache dafür, dass die Zahl derer, die von Armut gefährdet seien, stetig ansteige, sieht Seibel unter anderem in einer sinkenden Lohnquote – oder anders ausgedrückt: Arbeitnehmer haben weniger vom Gewinn der Unternehmen in der Tasche. Nicht weniger als 960 000 Hessinnen und Hessen waren im Jahr 2017 nach Angaben der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder von Armut bedroht. „Hinter jeder Zahl steht ein Mensch“, hob Seibel die persönlichen Einzelschicksale hervor.

Wenn genug für alle da ist, ist auch genug für jeden einzelnen da – diesbezüglich herrschte auf die Frage von Manfred Günther, der als Leiter der Öffentlichkeitsarbeit des St. Elisabeth-Vereins moderierend durch den Abend führte, Einigkeit unter den teilnehmenden Politikerinnen und Politikern. Hinsichtlich der Fragestellung, was konkret geschehen muss, um eine bessere Verteilung zu gewährleisten, damit jeder einzelne in den Genuss eines gewissen Maßes an Wohlstand kommen kann, gab es allerdings verschiedene Lösungsansätze, was zu einer lebhaften und kontroversen Diskussion führte.

Handan Özgüven (SPD) machte Versäumnisse der CDU für die aktuelle Situation mitverantwortlich. In 19 Jahren Regierungsbeteiligung habe die CDU für massive Kürzungen bei den sozialen Einrichtungen wie den Frauenhäusern und der Jugendkonflikthilfe gesorgt und Frustration bei haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern ausgelöst. Zudem warf sie Ministerpräsident Volker Bouffier eine Verhinderung der Bekämpfung der Steuerhinterziehung vor. Ihr Ansatz: Gelder an anderer Stelle in der Verwaltung einsparen. Dieser Vorschlag brachte ihren Konkurrenten Dirk Bamberger (CDU) in Rage: Er führte aus, die SPD habe unter Kirsten Fründt den Verwaltungsapparat des Landkreises unnötig vergrößert. Seine Forderung zur Armutsbekämpfung: Leistung muss sich wieder lohnen. Hier hakte Jan Schalauske (Die Linke) ein. Genau da läge das Problem. „Die Früchte der Arbeit müssen bei den Arbeitern ankommen. Armut und Ausgrenzung fallen nicht vom Himmel, sondern sind von der Politik und den Menschen gemacht“, kritisierte er die Politik in Bund und Land, welche die Situation in den vergangenen Jahre verschärft habe. Hartz IV habe Arbeitslose an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Schalauske forderte eine stärkere Besteuerung von Reichen und Super-Reichen – in seinen Augen keine Revolution, sondern eine Selbstverständlichkeit. Als Beispiel nannte er die Wiedererhebung der Vermögenssteuer.

Bamberger nahm den Ball auf und sah hier durchaus einen Ansatzpunkt, schränkte jedoch ein, dass eine Vermögenssteuer nicht bei jährlichen 5 Prozent liegen dürfe und nicht das Vermögen auflösen dürfte. Angela Dorn (Bündnis 90 / Die Grünen) bezeichnete die Erhöhung von Steuern als schwierig, „solange Steuern als etwas Negatives angesehen werden,“ sah aber ebenfalls die Notwendigkeit für mehr Einnahmen, denn Schulden seien, insbesondere mit Blick auf zukünftige Generationen, der falsche Weg. Lisa Freitag (FDP) vertrat den Standpunkt, dass der Weg in eine gerechteren Gesellschaft über Bildung geht. Nur Umverteilung allein könne dies aus ihrer Sicht nicht leisten. Ihrer Ansicht nach seien hierfür genügend finanzielle Mittel vorhanden, und schließlich koste schlechte Bildung letztlich mehr als gute.

Fazit: Die Zuschauer sahen an diesem Abend eine konstruktive, aber auch kontroverse Diskussion mit Kritikpunkten und Lösungsansätzen, bei der einmal mehr deutlich geworden wurde, dass das Thema Armut reichlich Gesprächsstoff birgt, und die die Erkenntnis bestätigte, dass noch genug für alle da ist – vor allem wenn man sich mit dem Thema beschäftigt.

In der Folgewoche (27. September) empfing die Diakonie im Bürgerhaus (Parkhotel) Biedenkopf die Direktkandidaten – oder: Direktkandidat/innen? – der im Hessischen Landtag vertretenen Parteien für den Wahlkreis Marburg-Biedenkopf I – Hinterland sowie Nord und Südkreis: Dr. Thomas Schäfer (CDU), Angelika Löber (SPD), Sandra Laaz (Bündnis 90 / Die Grünen), Ingeborg Cernaj (Die Linke) und Benjamin Oette (stellvertretender Ortsvorsitzender FDP Marburg, für den kurzfristig erkrankten Direktkandidaten Hans-Otto Seitz).

„Mehr Chancen, bessere Jobs, faire Bezahlung und größere Gesundheit“ versus „Daten fressen Seele auf“ leitete Moderator Manfred Günther in das Thema ein und brachte die entscheidende Frage auf den Punkt: Die Digitalisierung werde sich fortsetzen, in rasendem Tempo. „Man kann sie nicht aufhalten, aber gestalten. Wie kann sie so gestaltet werden, dass sie dem Wohlergehen eines jeden Einzelnen innerhalb unserer Gesellschaft dient – also dem Gemeinwohl?“

Digitalisierung: Wie der Fortschritt nicht zum Fortlaufen wird

Vorab: Die Diskussion zum Thema Digitalisierung fand in analoger Form statt. Dass die Digitalisierung grundsätzlich eine große Chance darstellt, stand für die teilnehmenden Politikerinnen und Politiker jedenfalls außer Frage.

Fast Einigkeit herrschte auch hinsichtlich der Einschätzung, dass Globalisierung nicht nur rosige Aussichten bietet, sondern zumindest der Weg dorthin auch das eine oder andere Dorn mit sich bringt. Nur Benjamin Oette (FDP) war diese Betrachtungsweise ein Dorn im Auge. „Der Vorbehalt gegenüber der Digitalisierung sitzt zumeist zwischen den Ohren“ machte er seinen Standpunkt deutlich. Die Digitalisierung bezeichnete er als einen Fortschritt, „der Chancen bietet, aber auch Verantwortung verlangt.“ Eine Verantwortung, die in seinen Augen bei jedem Einzelnen liegt – und nicht beim Staat, wie es die Auffassung der Direktkandidaten ist.

Auf Oettes Kritikpunkt, der Gesetzgeber sei beim Thema Digitalisierung zu langsam, bezeichnete es Dr. Thomas Schäfer (CDU) zwar als „denklogisch“, dass der Gesetzgeber immer auf das Geschehe reagiere, allerdings sei genauso klar, dass Kriminellen Einhalt geboten werden müsse. Die neuen virtuellen Wege der Straftatbegehung bezeichnete Schäfer als „Kreativität des Stinkstiefels“. Angelika Löber (SPD) pflichtete ihm bei. Ihrer Ansicht nach brauche es im öffentlichen Raum eine stärkere Kontrolle, weshalb das Land Hessen mehr Spezialisten benötige. Als weiteren wichtigen Aspekt der Digitalisierung nannte Löber, die sich unter anderem für digitale Lehrmittelfreiheit einsetzt, den Aspekt der Teilhabe. Diese dürfe „keine Frage des Alters“ sein und schließe auch die Inklusion mit ein.

Sandra Laaz (Bündnis 90 / Die Grünen) machte sich für eine bessere Vermittlung des Umgangs mit Medien und eine größere Bedeutung des Datenschutzes stark. Auch sei mehr Unterstützung für die Verbraucher von Nöten. Zustimmung hierfür gab es von Dr. Ingeborg Cernaj (Die Linke), die als Beispiel das Thema Werbung ansprach. So bekäme man ein Produkt, für das man sich online interessiert, in den folgenden Tagen immer wieder in Form von Bannerwerbung auf anderen Internetseiten angezeigt. Da sei es dann schwer, zu widerstehen.

Fazit: Es sind noch viele Schritte zu gehen, damit die Digitalisierung ein Fortschritt wird, den niemand als persönlichen Rückschritt empfindet. Die Diskussion zeigte auf, in welche Richtung es laufen muss. Fortlaufen können wird man vor der digitalen Zukunft ohnehin nicht.

 
Lesen Sie hierzu auch folgende Zeitungsartikel:
„Armut und Ausgrenzung fallen nicht vom Himmel“ aus der Oberhessischen Presse vom 24.09.2018
Ist die Digitalisierung Segen oder Fluch? aus dem Hinterländer Anzeiger vom 26.09.2018
Was bringt die Digitalisierung? aus dem Hinterländer Anzeiger vom 29.09.2018
„Die Kreativität des Stinkstiefels“ aus der Oberhessischen Presse vom 29.09.2018



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